Der Kampf um die Consumer Touchpoints und das Schwergewicht KI im Handel
- Michael Jungbluth
- 7. Jan. 2022
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Feb. 2022

Die digitale Transformation eröffnet Händlern neue Möglichkeiten der Erlebnisgestaltung durch Maßnahmen wie beispielsweise Automatisierung/Vernetzung oder Individualisierung (Reinartz et al., 2019). Mit den Möglichkeiten steigt auch die Erwartungshaltung. Konsumenten erwarten ein relevantes und konsistentes Einkaufserlebnis entlang aller Touchpoints. Dazu gehören auch diejenigen Touchpoints, die nicht exklusiv vom Handels-unternehmen, sondern von großen Plattformen, Dienstleistern oder Markenherstellern direkt koordiniert werden (Lemon und Verhoef, 2016).
Konsumenten in der Vorkaufphase formieren ihr Consideration-Set über Suchanfragen, Preisvergleiche, Reviews und Vergleichsvideos bei großen Online-Plattformen. Sie setzen sich beim Kauf intensiv mit den Händler/Hersteller-Touchpoints auseinander und tauschen sich in der Nachkaufphase in sozialen Netzwerken über die Nutzung der Produkte aus. Je nach Produktkategorie und Konsumenten-Involvement sehen diese Schritte und Sequenzen ("Customer Journeys") sehr unterschiedlich aus.
Kann künstliche Intelligenz Händlern helfen, die zunehmende Komplexität zu kanalisieren und die steigende Erwartungshaltung der Konsumenten zu erfüllen?
Fakt ist, dass Dienstleister, Plattformen und auch Markenhersteller im Direktvertrieb schon längst erkannt haben, dass die Hoheit über Consumer-Touchpoints erfolgreich monetarisiert werden kann, wie der folgende Zeitvergleich zeigt:

Das Potential übersetzt sich in eine deutliche Zunahme an Intermediären zwischen Hersteller und Konsument. Für Händler stellt sich mittlerweile permanent die Frage nach vertikaler Integration neuer Touchpoints bzw. Touchpoint-Technologien. Gehört der neue Touchpoint zum Kerngeschäft eines Händlers? Gemäß einer aktuellen DACH-Studie korreliert die Nutzung vieler Touchpoints positiv mit einem besseren Kundenerlebnis und höheren Ausgaben (Rudolph et al., 2021). Aber brauchen wir übermorgen einen Flagshipstore im Metaverse?
Die Gretchenfrage lautet: Welche Touchpoints müssen langfristig in der Steuerungshoheit der Händler aufgehen und welche sind kooperativ mit Dienstleistern und Plattformen abbildbar? Diese Frage hängt eng damit zusammen, für welche Touchpoints fein granulare First-Party-Daten und ein direkter Zugang erfolgskritisch sind und für welche Touchpoints eine kontextuelle aggregierte Steuerung ausreicht. Alte Handels-Positionierungen rund um die reine Warenverteilung sind jedenfalls längst nicht mehr zielführend.
Händler müssen ihre profitablen Kundenbeziehungen bewusst entlang aller relevanten Touchpoints gestalten.
Den Startschuss dafür setzt eine gelebte Unternehmens-Mission, dass die gezielte, differenzierte und skalierbare Beeinflussung aller relevanten Touchpoints von Bestands- und Neukunden das wesentliche Ziel eines Omni-Channel-Händlers ist. Damit werden Händler auch unweigerlich zu Technologie-Unternehmen. Technologien, die das ZUHÖREN / VERSTEHEN / GESTALTEN ermöglichen. Konsumenten profitieren von Vereinfachung und Begeisterung. Mit vereinfachenden und begeisternden Maßnahmen bauen Händler Vertrauen auf und regen Wiederholungskäufe an (Kahn, 2021). Künstliche Intelligenz kann genau an dieser Stelle umfangreich unterstützen!
Unternehmen müssen ihre Touchpoints dahingehend untersuchen, welche "Customer Journey-Bestandteile" durch eine künstliche Intelligenz weiter vereinfacht oder erlebnisorientierter ausgestaltet werden können. Die Bandbreite an Möglichkeiten ist immens: Recommender-Systeme, Hyperpersonalisierung, CLV-Prognosen, dynamisches Pricing, programmatische kontextuelle Werbung, Retargeting, Sentiment-Analysen, Marketing-Mix Modelle und -Attribution, Churn-Prävention, Chatbots, Kausalanalysen und Experimente, Fraud-Prävention und vieles mehr.
Hervorzuheben ist, dass KI gerade in unsicheren und anonymen Kundensituationen durch einen entscheidungs-orientierten Fokus Mehrwerte stiftet.
Die obige Grafik zeigt plakativ die zunehmende Disruption und Fragmentierung des Kerngeschäfts von Händlern. Hinzu kommen die Privacy-Bestrebungen dominanter Plattformen und Endgerätehersteller als Reaktion auf ein steigendes Privacy-Bedürfnis von Konsumenten und Regulatoren.
Momentan sieht es nach
mehr Komplexität,
mehr Dynamik bei
weniger entscheidungsrelevanten bzw. zugänglichen Daten aus.
Daher greift auch der aktuelle Trend, jeder Initiative ein "data-driven..." voranzustellen, meiner Auffassung nach zu kurz. Alle KI-Überlegungen sind entscheidungs-fokussiert und nicht (Bestands-)daten-fokussiert aufzusetzen. Die Entwicklungen werden komplexer und anonymer. Aber genau das soll und kann eine KI besser und kosteneffizienter berücksichtigen als ihr menschliches Pendant.
Referenzen:
Reinartz, W., & Wiegand, N., & Imschloss, M. (2019). The impact of digital transformation on the retailing value chain. International Journal of Research in Marketing 36, 350-366.
Lemon, K.N., & Verhoef, P.C. (2016). Understanding customer experience throughout the customer journey. Journal of Marketing 80, 69-96.
Rudolph, T., & Kleinlercher, K., & Kralle, N. (2021). Studie: Omni-Channel Management 2021 in Deutschland, Österreich und der Schweiz. IRM-HSG Mai 2021. https://handelsverband.swiss/wp-content/uploads/2021/06/OCM-Studie_Handelsverband_swiss.pdf, zuletzt abgerufen am 20.12.2021.
Kahn, B.E. (2021). The shopping revolution – How retailers succeed in an era of endless disruption accelerated by COVID-19. Wharton School Press. Philadelphia.
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