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Künstliche Intelligenz und Digitalisierung - zuerst die Hausaufgaben, dann der MVP...

  • Autorenbild: Michael Jungbluth
    Michael Jungbluth
  • 6. Feb. 2022
  • 4 Min. Lesezeit

 

In zunehmendem Umfang wird in den Fachmedien die ökonomische Rolle künstlicher Intelligenz (KI) im Rahmen der Digitalisierung thematisiert. Es herrscht das folgende (verkürzt dargestellte) Verständnis: Wenn wir Wertschöpfungsstufen digitalisieren, dann werden diese zugänglicher für Automatisierung, Personalisierung und Skalierung durch Anwendungen künstlicher Intelligenz.


Die Verwobenheit beider Themenfelder ist selbstverständlich nicht zu bestreiten und wird durch viele attraktive Anwendungsfälle und Studien untermauert. Jedoch kommt insbesondere in frühen unternehmerischen Auseinandersetzungen mit diesen Themenfeldern die „strategische Bewertung“ künstlicher Intelligenz für das jeweilige Digitalisierungsvorhaben oft zu kurz. Vernachlässigen die Entscheidungsträger diese wichtigen Hausaufgaben, so führt dies zu falschen Erwartungen, falschen Budgetierungen und mangelhaften Projektaufsätzen, da sich die strategische Bedeutung künstlicher Intelligenz im Rahmen von Digitalisierungsprojekten je nach Geschäftsfeld dramatisch unterscheiden kann.


Zuerst die Hausaufgaben machen!

Die strategische Bedeutung von Geschäftsfeldern charakterisiert die Betriebswirtschaftslehre klassischerweise über zwei Perspektiven: Die sogenannte „Outside-In“ Perspektive setzt sich mit dem konkreten Marktumfeld auseinander (Porter, 1979). Die „Inside-Out“ Perspektive fokussiert hingegen auf die vorhandene Ressourcenausstattung von Unternehmen als Treiber des Markterfolgs (Barney, 1991).

Beide Perspektiven haben sich über viele Jahrzehnte bewährt und eruieren strukturiert die potentiellen Gründe und Voraussetzungen für nachhaltige Wettbewerbsvorteile in den betrachten Geschäftsfeldern. Geschäftsfeldstrategische Überlegungen sollten stets auf einer ausdefinierten „Inside-Out-„ UND „Outside-In“ Perspektive aufsetzen. Im Folgenden betrachten wir KI als geschäftskritische Unternehmensressource zur Gestaltung nachhaltiger Wettbewerbsvorteile und blenden die „Outside-In“ Perspektive vereinfachend aus.

Für welche Geschäftsfelder sind Algorithmen der künstlichen Intelligenz geschäftskritische Ressourcen? Hier gibt es viele Beispiele: Der erfolgreiche Empfehlungsalgorithmus von Netflix sorgt für eine vereinfachende Reduktion von Suchkosten nach relevantem Content. Prognosemodelle zur Betrugsprävention reduzieren vermeidbare Kostenblöcke für Finanzdienstleister. Die automatisierte Analyse von Bildmaterial reduziert die Prozesskosten einer Versicherung in der Schadensabwicklung. „Ship-before-you-buy“- bzw. „Curated Shopping“ Anbieter wie Stitch-Fix reduzieren ihre Retourenquote durch ein KI-gestütztes Vorschlagswesen für ihre Stylisten.

Konsequenterweise sieht man daher immer mehr Unternehmen, die etablierten KI Anwendungen organisatorische „Product-Owner“ zuordnen und damit KI als Unternehmensressource explizit in der Organisation verankern.


Werthaltig, selten, schwer zu imitieren und organisatorisch tragfähig

Bevor Unternehmen umfangreich in KI investieren muss ein klares Bild herrschen, warum und in welcher Ausprägung KI zu einer geschäftskritischen Ressource werden kann. Dazu eignet sich das so genannte VRIO-Framework von Barney. Barney bezeichnet eine Unternehmensressource als ausschlaggebend für nachhaltige, komparative Wettbewerbsvorteile, wenn die Ressource

  • Valueable“,

  • Rare“,

  • „hard to Imitate“ und

  • „exploitable by the Organization“

ist. KI Anwendungen in der Digitalisierung sind meist werthaltig. Zu groß sind die breit gefächerten Automatisierungs-, Personalisierungs- und Skalierungspotentiale gestützt von einer besseren Mess- und Analysierbarkeit durch die digitalisierte Wertschöpfung. Leider hört die strategische Bewertung genau an dieser Stelle oft zu voreilig auf. Die Attribute „selten“, „schwer zu imitieren“ und „organisatorisch abbildbar“ machen jedoch meist den Unterschied. Aber warum?

Insbesondere durch Open-Source ist ein KI-Algorithmus im engeren Sinne weder selten noch schwer zu imitieren. Auch das Arbeitsmarktangebot des Data-Scientist ist nicht mehr so knapp wie vor 10 Jahren. Selten kann der Zugang zu wichtigen Trainingsdaten sein. Beispielsweise wenn sich die Qualität des Algorithmus mit größeren Datenbeständen signifikant verbessern lässt. Im Bereich des „Deep Learnings“ für Sprach- und Bild-Anwendungen haben die großen Plattformen wie Google, Amazon und Meta den besseren Zugang zu Konversationen und Bildmaterial. Ein weiteres Beispiel ist die bereits erfolgte effektive Operationalisierung von KI Anwendungen in Unternehmensprozessen. Bereits angefallene Lernkosten, Erfahrungswerte und „First-Mover“-Vorteile führen zu Pfadabhängigkeiten und sorgen für Imitationshürden. Weiterhin selten ist die Fähigkeit von etablierten und gewachsenen Unternehmen, KI Anwendung organisatorisch effizient einbetten und betreiben zu können. Start-Ups tun sich an dieser Stelle naturgemäß deutlich leichter. Unter erfolgreicher organisatorischer Einbettung ist vor allem nicht nur die IT zu verstehen, auch wenn dort die großen funktionalen Teile abgebildet werden müssen (vgl. Sculley et al., 2015). Die Wertschöpfung entsteht nicht isoliert in der IT.


Welche Aspekte meines Produktnutzens digitalisiere ich überhaupt und was genau verbessert die künstliche Intelligenz?

Der Produktnutzen unterteilt sich gemäß Meffert, Burmann und Kirchgeorg (2012) nach

  • Grundnutzen (technisch funktionale Basiseigenschaft),

  • Zusatznutzen (Bedürfnisbefriedigung des Produkts über den Grundnutzen hinaus),

  • Erbauungsnutzen (ästhetische Wirkungen) und

  • Geltungsnutzen (soziale Wirkungen).

Bücher, Musik und Filme sind die gängigsten Beispiele für einen digitalisierten Grundnutzen. Die Mehrwerte künstlicher Intelligenz beziehen sich jedoch meist auf den digitalisierten Zusatznutzen und reichern den Grundnutzen an. Bezogen auf Bücher, Musik oder Filme wäre dies beispielsweise die vereinfachte Suche nach neuen und relevanten Inhalte durch personalisierte Ähnlichkeits-/Empfehlungsinformationen. Zentral sind daher folgende Fragen:

  • Welche zusätzlichen Zahlungsbereitschaften und Verbesserungen der Customer Experience entstehen an dieser Stelle? (Inkrementelle Wirkung von KI)

  • Wie sehr helfen diese spezifischen Mehrwerte, Konsumentenbeziehungen in neue Vertriebsmodelle (z.B. langfristige Abomodelle) zu überführen? (Übergeordnete strategische Ziele)

  • Ist der verbesserte Zusatznutzen so umfangreich, dass sich ein Start-Up in die Wertschöpfungskette einklinken kann und schnell eine kritische Masse an Kundenbeziehungen und Touchpoints auf sich vereint? (Eintrittsbarrieren Dritter in die Nutzendimensionen)

  • Auf welche Nutzendimensionen beziehen sich NFTs und Repräsentanzen im Metaverse? Wie kritisch ist deren Werthaltigkeit zu hinterfragen? (Einordnung von Trends und Innovationen)

Erfolgreiche Unternehmen wissen exakt, welcher strategische Wert ihren KI Algorithmen auf welchen Nutzendimensionen zuzusprechen ist und welches Investitionsbudget diese Konstellationen rechtfertigen. Sie wissen ebenfalls, dass sich diese strategische Bewertung über die Zeit schnell ändern kann. Was heute für einen überraschenden Zusatznutzen mit hoher Zahlungsbereitschaft führt, kann morgen „me too“ sein und als wenig differenzierende Basisanforderung keine weitere Zahlungsbereitschaft auslösen. Sie sind sich all diesen Punkten bewusst? Dann sollte der MVP Aufsatz ein leichtes sein.

 

Referenzen:


Porter, M.E. (1979). How Competitive Forces Shape Strategy. Harvard Business Review 57, 137-145.


Barney, J. (1991). Firm Resources and Sustained Competitive Advantage. Journal of Management 17, 99-120.


Sculley, D., Holt, G., Golovin, D., Davydov, E., Phillips, T., Ebner, D., Chaudhary, V., Young, M., Crespo, J.F. und Dennison, D. (2015). Hidden Technical Debt in Machine Learning Systems. Proceedings of the 28th International Conference on Neural Information Processing Systems, Volume 2, 2503–2511.


Meffert, H., Burmann, C. und Kirchgeorg, M. (2015). Grundlagen marktorientierter Unternehmensführung Konzepte - Instrumente - Praxisbeispiele. 12. Auflage. Springer Gabler, Wiesbaden.

 
 
 

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